Das Unwesen in Plüsch
(Ein Märchen für Konsumopfer (wie mich))
„Mama, gibt es die Zweibeiner wirklich?“, fragte der Fünfjährige neugierig während er es sich in einer schlammigen Mulde am Grunde des tiefen Sees bequem machte. Erwartungsvoll riss er die Augen auf. Er war der Jüngste in der Familie und wurden von allen nur NESShäkchen genannt. Naja, von fast allen. Seine Mama rief ihn NESSIE.
„Hat dir Opa mal wieder die alten Geschichten erzählt? Das sind doch nur Märchen!“, erwiderte die Mutter belustigt und strich ihm liebevoll über die Kiemen.
„Aber wenn es doch stimmt? Opa NESScoban sagt, er ist mal ganz nach oben geschwommen und hat welche von ihnen gesehen. Einen am trocknen Land und einen direkt auf dem Wasser, der in einer Schale schaukelte. Der Opa hat sich so erschrocken, dass er schnell wieder abgetaucht ist und ganz vergessen hat, Fotos zu machen!“
„Ach NESSIE, der Opa erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Er ist schon sehr alt, um nicht zu sagen SEEnil und wenn man so viel erlebt hat wie er, dann vermischt man irgendwann Realität mit FantaSEE. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in der trockenen Welt überhaupt Leben gibt!“
„ErNESSto“, wandte sich nun der Kleine an seinen sechzehnjährigen Bruder, „kannst du nicht mal hochschwimmen und nachschauen? Für mich? Bitte!!!“
Lustlos blickte der Bruder von seinem Smartphone auf.
„Was soll ich? 200 Meter nach oben schwimmen wegen so 'nem alten Mythos? Geht's noch? Am Ende gibt’s dort nicht mal freies SEE-Lan!“
Enttäuscht ließ das NESShäkchen die Schultern und die Flossen am Ende seines langen Schwanzes hängen. „Ihr seid doch alle...so...so unneugierig!“, brach es vorwurfsvoll aus ihm heraus. SEENsüchtig sah es nach oben, wo das schwarze Wasser manchmal etwas heller schimmerte.
Nun mischte sich der Vater ins Gespräch ein.
„SEEbylle, ich gebe dir ja recht, dass Opa manchmal wirres und SEEltsames Zeug redet“, stimmte er seiner Frau zunächst zu, „erst letztens diese Verschwörungstheorie mit der schleichenden Vergiftung der Gewässer durch überseeische Mächte!“ Er lachte mit tiefem Grunzen, wackelte bedeutungsvoll mit den Rumpfflossen und krümmte dabei seinen schuppigen Bauch. „Aber an der Sache mit den Zweibeinern scheint tatsächlich etwas dran zu sein. Onkel AALbert hat auch davon erzählt, dass sie mal einen Nullflosser im Loch Ness gefunden haben. Statt Flossen hatte der zwei Beine und zwei Arme, das war natürlich sehr unpraktisch. Er lebte nicht mehr, anscheinend hatte er Probleme mit dem Atmen im Wasser. Nur leider ist damals keiner auf die Idee gekommen, ihn zu präparieren oder auszustopfen.“
„Bist du dir sicher?“, hakte seine Frau ungläubig nach.
„Ja! Tante AALmut hat damals sogar eine Zeichnung von dem seltsamen Lebewesen erstellt!“
Er suchte das Bild raus.
NESSie kam sofort angeschwommen und beugte sich darüber.
„Was für ein Unwesen!“, rief es mit einer Mischung aus Abscheu und Begeisterung.
Nun hob auch ErNESSto seinen Kopf und wollte es sehen.
„Krass!“, murmelte er anerkennend.
„Es ist nicht so groß, wie ihr denkt -“, erklärte der Vater, der mit 20 Metern Länge zu den größeren Seebewohnern zählte. „Weniger als 2 Meter! Und ich würde es auch nicht als UNwesen bezeichnen. Wer gibt uns denn das Recht, uns über andere Lebewesen zu erheben und sie in Art oder Unart einzuteilen?“, gab der Vater zu bedenken.
„Der Seeteufel?“, rief NESSIE ängstlich.
„Egal“, warf ErNESSto ein, „ich hab schon 500 Likes! Das Bild vom UNwesen geht gerade viral!“
Er hatte die Zeichnung abfotografiert und in den SEEzialen Medien geteilt.
Wenn sein Vater Augenbrauen besessen hätte, hätte er jetzt mit Sicherheit eine davon angehoben. So runzelte er nur seine glatte, graue Stirn.
„Wofür soll das nun schon wieder gut sein?“, fragte er.
„Die Jugend ist ja nur noch im Netz unterwegs“, empörte sich auch die Mutter.
„Willkommen im 21. Jahrhundert, da hängen alle mit drin! Außerdem könnten wir mit dem Zweibeiner doch ein richtig gutes Geschäft aufziehen!“, begeisterte sich der Sechzehnjährige. Sein kleiner Bruder schoss aufgeregt zappelnd um ihn herum.
„Du meinst Muscheln verdienen? Richtig viele? Wie denn?“
„Na das Interesse an dem 'Viech' ist derartig hoch, wenn wir ein paar Gummipuppen oder Plüschtiere davon produzieren, wird das garantiert ein Verkaufsschlager“, schlug der große Bruder vor.
„Bei meiner SEEle! Ist das nicht ein wenig respektlos, wenn nicht sogar Betrug?“, wandte seine Mutter ein, „Immerhin liegt die letzte Sichtung eines Zweibeiners mehr als dreißig Jahre zurück! Wer sollte so dumm sein, dafür seine Muscheln auszugeben!“
„Wir müssen das nur richtig aufziehen! Die Leute SEEnen sich doch nach Mythen und Verschwörungstheorien. Sie wollen nicht wissen, sie wollen es glauben. 'SEA the UnSEAn'! Am besten, das Ganze ist auch noch ein bisschen schaurig! Wir bauen einfach ein komplettes MÄRCHENdising auf, mit Stofftieren, Schlüsselanhängern, Gummimännchen in verschiedenen Farben, Fotos und Büchern mit spannenden Geschichten! Alles zum zweibeinigen Unwesen vom Land! Dann kommt auch mehr Kundschaft in deinen Laden!“, argumentierte der Teenager weiter.
„Fotos? Wo willst du die denn hernehmen?“, wollte der Vater wissen.
„Die generiert DALL-SEA nach dem Vorbild der Zeichnung, den Rest schmücken wir halt ein bisschen aus!“, erklärte ErNESSto, „Deep fake im deep lake sozusagen!“.
„Ach hört doch auf, da wird es doch dem Hecht schlecht!“, zweifelte die Mutter erneut an der Sinnhaftigkeit des Unterfangens. „Und als nächstes füllst du dann Wasser ab und verkaufst es in Flaschen?“, ergänzte sie mit einem Hauch von Sarkasmus.
„Gar keine üble Idee!“, erwiderte ihr Sohn beifällig. Die Mutter verdrehte die Augen, klatschte sich empört eine Flosse an die Stirn und sagte lieber nichts mehr. Der BusiNESS-Zusatzkurs in der Schule war ihm wohl zu Kopf gestiegen.
„Wenn wir mit den Stofftieren erst ein paar Muscheln verdient haben, dann kaufen wir ein Stück vom See und lassen es ins Seegrundbuch eintragen. Gleichzeitig sichern wir uns die Schlürfrechte und werden sandreich!“, sinnierte der Jugendliche und fläzte sich süffisant aufs Steinsofa. „Wir bringen das Wasser dorthin, wo es nicht so kühl und erfrischend ist. Oder wir ändern die Farbe und machen Bläschen rein! Und wenn uns der See erst ganz gehört, dann müssen ALLE, die davon trinken wollen, bei uns kaufen!“
Erschrocken blickte SEEbylle ihren Sohn an. War es nicht klar, dass das Lebenselixier, wie sie das Wasser auch ehrfurchtsvoll nannten, für alle da war und niemandem gehörte? Nicht gekauft und nicht verkauft werden konnte? So etwas Absurdes war einfach keiNESSwegs denkbar.
Der Vater fragte seinen Sohn nur verschmitzt: „Und, hast du auch schon eine Idee, wie wir unser Unternehmen nennen sollen?“
ErNESSto, der gerade begonnen hatte, ein paar Zahlen in eine Kalkulation einzugeben, blickte auf, überlegte kurz und meinte dann: „Wie wäre es mit... NESStle?“
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