STOPP(t den Alltag)!
Wenn gar nichts mehr hilft und jegliche Vernunft oder Bemühung um Verbesserung versagt, dann hilft nur noch eins: der STREIK. Das kennen wir ja schon von unserem Magen. Zuviel ist einfach zu viel.
In unserem Land sind wir gerade mit zwei verschiedenen Streiksituationen auf gesellschaftlicher Ebene konfrontiert. Wir sind unterschiedlich persönlich davon betroffen, bilden uns aber unausweichlich eine Meinung bzw. ein Urteil* und finden ein entsprechendes Echo auch in den diversen Medienkanälen. Da die Urteile hier in völlig gegensätzliche Richtungen laufen, will ich der Sache mal auf den Grund gehen.
Fall 1:
27.03.2023 – Deutschland streikt. Nein, wird bestreikt. Verdi und die Bahngewerkschaft EVG haben ihre Mitglieder zu einem 24-stündigen Arbeitskampf aufgefordert. Weite Teile des öffentlichen Verkehrs liegen still. Hiervon sind bundesweit Millionen von Berufspendlern, Reisende sowie der Güterverkehr betroffen. Erst kürzlich führte Verdi Warnstreiks im öffentlichen Dienst durch. Kindergärten blieben geschlossen, Busse und Bahnen in den Depots. Viele wussten nicht, wie sie zur Arbeit oder zur Schule kommen sollten oder mussten mehr Zeit für ihre Wege einplanen Die Beschäftigten, die sich am Streik beteiligen, versammeln sich bei Kundgebungen und gehen am nächsten Tag wieder ganz normal arbeiten. Die Streiks sind jedes Mal angekündigt. Sie führen dennoch zu Einschränkungen und Problemen für zahlreiche Menschen, die nicht auf Homeoffice oder Auto und private Kinderbetreuung zurückgreifen können. Nicht selten müssen Urlaubstage hierfür eingesetzt werden.
Fall 2:
Ein paar Tage zurück. 20.03.2023 – Klimaaktivisten streiken in Dresden. Kleben sich an einer Straße fest. Der Polizeieinsatz zur Beseitigung dauert ca. 15 Minuten plus Anfahrt. Es handelt sich um eine lokal begrenzte Einschränkung des Straßenverkehrs, d.h. mit einer Auswirkung auf ein paar hundert Menschen über einen relativ kurzen Zeitraum. Die Aktivisten werden von der Polizei festgenommen und bekommen Strafen wegen Nötigung und Verstoß gegen das Versammlungsrecht. Derartige Störaktionen finden alle paar Tage an jeweils unterschiedlichen Orten ohne Ankündigung bzw. Vorwarnung statt und führen zu temporären Staus.
Betrachtet man die Auswirkungen des Streiks sind sie in ihrer Art für den einzelnen Betroffenen in beiden Fällen ähnlich. Sie führen dazu, dass die Mobilität eingeschränkt wird, der Alltag umorganisiert werden muss, Zeit verloren geht und wichtige Termine nicht wahrgenommen werden können. Blickt man auf die Summe der Einschränkungen hochgerechnet auf alle jeweils Betroffenen, dürfte diese im Fall 1 – mit seiner bundesweiten Ausdehnung über 24 Stunden – ein Vielfaches höher sein als bei allen Aktionen zu Fall 2 in diesem Jahr zusammengenommen.
Die Reaktionen der Allgemeinheit sowie der von den Einschränkungen betroffenen Personen sind jedoch diametral. Im Fall 1 werden durchaus Verständnis und Sympathien geäußert, höchstens mal die Schultern gezuckt. Im Fall 2 bewegen sich die Reaktionen von Unverständnis über Empörung bis hin zu Wut und sogar Hass. Die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ werden von manchen als Extremisten oder sogar Klimaterroristen bezeichnet. Zahlreiche Medien unterstützen diese Wut-Rhetorik und heizen damit die Stimmung gegen die Protestierenden an. Autofahrer riskieren in ihrer Verärgerung sogar Verletzungen der streikenden Aktivisten, indem sie über ihre Füße fahren oder drohen, sie gar zu überfahren.**
Aber wo sind die Unterschiede?
Erstens. Im Fall 1 handelt es sich um ein verfassungsmäßiges Streikrecht. Zumindest wird dies von der Rechtsprechung aus Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes für den Bereich der „Arbeitskämpfe“ abgeleitet, denn ausdrücklich formuliert oder beschrieben ist es dort nicht. Beim Fall 2 handelt es sich um einen politischen Streik, ein Recht darauf ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Ein Recht auf Streiks für die Zukunft schon gleich gar nicht. Dafür kann man demonstrieren gehen. In der Freizeit. Mit vorheriger Anmeldung. Könnten das die Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer nicht auch? Aber dann tut es nicht so weh. Eben!
„Für uns ist entscheidend, den Druck zu erzeugen, um die Maßnahmen umzusetzen.“, meint Jakob Beyer*** und könnte mit dieser Aussage mühelos beiden Streiks zugeordnet werden. Er ist Aktivist der Gruppe „Letzte Generation“. Darüber hinaus unterstützte die Klimabewegung „Fridays for Future“ den Streik von Verdi und EVG und zeigte sich mit eigenen Aktionen und Beteiligung an den Kundgebungen am 27.03.2023 solidarisch. Spätestens hier merkt man die politische Dimension des Warnstreiks der Gewerkschaften im Bereich des Öffentliches Dienstes sowie der staatseigenen Unternehmen. Von einer verfehlten Politik ist die Rede, was einer gewissen Ironie nicht entbehrt, sollen doch auch die hohen Entgeltgruppen der Bundesverwaltung profitieren, die als Teil der Exekutive wesentlichen Einfluss auf den Erfolg des staatlichen Handelns haben.
Zweiter Unterschied: Im Fall 1 kämpfen die Streikenden für persönliche, um nicht zu sagen egoistische, Ziele, wie bessere Vergütung oder bessere Arbeitsbedingungen. Das ist angesichts der Preissteigerungen vor allem für die unteren Gehaltsgruppen verständlich. Sie tun dies übrigens regelmäßig, Tarifrunden gibt es im öffentlichen Dienst und auch in anderen Branchen ca. alle 2 Jahre. Für die aktuellen Forderungen von Verdi und der EVG wird gerade mal eine Laufzeit von einem Jahr angeboten, d.h. der nächste Streik wird praktisch gleich mitgeplant. Ist das auch legitim? Schließlich geht es hier um den Kaufkraftverlust
von ein paar Millionen Menschen in Deutschland. Nachvollziehbar. Ein Unterschied zwischen niedrigen und höheren Gehaltsgruppen bis hin zu Richtern wird dabei nicht gemacht. Schultern dürfen das im Endeffekt wieder alle, bei der nächsten Anhebung der Ticketpreise im ÖPNV oder der Erhöhung der Abgaben und Gebühren für kommunale Einrichtungen, wenn nicht sogar durch Steuererhöhungen. Solidarisch? Eher nicht. Am Ende zahlen vor allem die Menschen mehr, die vom Streik am meisten betroffen sind. Ironie des Schicksals. Schon wieder. Auch bekannt als das „linke Tasche-rechte Tasche-Prinzip“.
Im Fall 2 kämpfen Einzelne für den Erhalt der Lebensgrundlagen
aller. Punkt.
Ich fasse zusammen. Den Äußerungen in den Medien ist zu entnehmen, dass ein Streik, der bundesweit 24 Stunden lang massive Einschränkungen für viele Millionen Menschen mit sich bringt und der sich im Wesentlichen um die Interessen der Streikenden selbst dreht, deutlich mehr Verständnis bekommt, als die lokal und zeitlich begrenzten Streiks der Klimaaktivisten, die sich für die Zukunft unserer Kinder und bessere Lebensbedingungen für uns alle einsetzen und dafür sogar Strafen in Kauf nehmen.
Ich sage es wie Herr Mon aus den Sams-Geschichten von Paul Maar: Muss man das verstehen? Nein, das muss man nicht.
Armes Deutschland.
P.S. Der hier vorgenommene Vergleich bezieht sich ausschließlich auf die Aktionen der Klimaaktivisten zum Sperren von Straßen. Dieses Mittel ist zwar nicht „heilig“, erzielt aber eine ähnliche Wirkung wie ein Streik, wenn auch nur, wie oben erläutert, in viel geringerem Ausmaß. Andere Proteste, die Sachbeschädigung oder Angriffe auf die FDGO**** zum Inhalt haben, kann ich nicht akzeptieren. Diese schaden leider der Glaubwürdigkeit und der aufgeschlossenen Wahrnehmung der Anliegen der Aktivisten und sind damit ein Teil der Erklärung zum oben gefundenen Dissens in den gesellschaftlichen Reaktionen. Der andere Teil der Erklärung liegt aber wohl leider an der Tatsache, dass vielen Menschen die Geldbörse näher am Herzen liegt, als die zukünftigen Lebensbedingungen ihrer Kinder. Meinungen gerne an kontakt@veronika-ahnert.de.
*Urteil ist hier vielleicht das treffendere Wort, von Meinung kann man erst sprechen, wenn sich jemand vorab die Mühe gemacht hat, sich sowohl mit den Pro- als auch den Kontra-Argumenten zu einem Sachverhalt auseinanderzusetzen und sich gründlich in verschiedenen Quellen darüber zu informieren
****FDGO – freiheitlich demokratische Grundordnung (nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes sind dies die Menschenwürde, das Demokratieprinzip und die Rechtsstaatlichkeit)