Letzte Nacht hatte ich Probleme einzuschlafen.
Nicht aber, weil mir der Krieg oder andere Schrecken und Ärgernisse unserer Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf das Schicksal der Menschheit durch den Kopf gingen, sondern weil im Haus gegenüber eine Party wütete und die Bässe der Musik mit einer Kraft durch die Straße wummerten, die jedem Clubbetreiber Respekt abverlangt hätte und die schallmindernde Wirkung eines geschlossenen Fensters bis zur Witzlosigkeit minimierte.
Der in mein Schlafzimmer dringende Krach kollidierte diametral mit meinem dringenden Bedürfnis nach Schlaf, gepaart mit der Sorge, ob das Kind nebenan auch wach wird und im Ergebnis meinen Einsatz zur Beruhigung, Ablenkung oder was auch immer fordert, welcher zusätzlich das Eintreten des Schlafzustandes meiner Person bis auf Weiteres verhindern würde.
Mein Hirn startete den Problemlösungssuchmechanismus. In ein anderes Zimmer umziehen? Zu spät, alle in Frage kommenden Schlafplätze waren schon besetzt und die Situation erschien mir nicht schlimm genug, um dafür eine Nacht auf dem Fußboden zu verbringen.
Die Polizei rufen? Warum denn immer gleich die Polizei rufen? Bringen wir nicht den Kindern schon im Kindergarten bei, dass sie, wenn es ein Problem gibt, erst mal versuchen sollen, dieses direkt untereinander zu klären?
Also müsste ich theoretisch rüber gehen und klingeln. Ein Brüller über die Straße wäre schließlich kaum durch die Lärmkulisse gedrungen, sondern hätte wohl eher den Aufweckprozess des Kindes nebenan beschleunigt.
Die lähmende Wirkung meiner Müdigkeit verhinderte zunächst jegliche Entschlusskraft oder Reaktion, die ein Aufstehen zur Folge gehabt hätte.
Ich lauschte der Musik. Eigentlich gar nicht so verkehrt. 90er-Jahre-Hits – 2Unlimited, Dr. Alban, meine Zeit. Wie gern würde ich auch mal wieder in einen Club gehen, die halbe Nacht durchtanzen oder abhotten, wie wir anno dazumal sagten. Wenn ich nur nicht so müde wäre...
Wenn ich nur nicht so müde wäre und vielleicht ein bisschen mutiger, würde ich gleich wie ich bin - also im Schlafanzug - rüber gehen, klingeln und fragen, ob entweder die Musik leiser gestellt wird oder ob ich bei der Party mitmachen kann.
An dieser Stelle berechnete allerdings mein persönlicher Risikoeinschätzungsmechanismus eine signifikante Wahrscheinlichkeit, dass der Hausherr der Party seinerseits zum Hörer greifen und die Polizei über den Aufgriff einer offensichtlich verwirrten Psychopathin informieren würde.
Und wenn ich nur höflich um etwas mehr Ruhe bitte? In die Berechnung fließt einerseits der Aufwand zum Aufstehen, Anziehen (um etwas seriöser zu wirken) und Zurücklegen des Weges zum anderen Haus ein, für das Gespräch mit ungewissem Ausgang sowie die Überlegung, wie wahrscheinlich es eigentlich ist, dass jemand der mitten in einem Wohngebiet auf die Idee kommt, nach Mitternacht die ganze Straße mit seiner extra aufgetunten Sound-Anlage zu beschallen, Wert auf die diesbezügliche Meinung seiner Nachbarn legt.
Aber sollte er diese Chance, seine Menschlichkeit und Fähigkeit zur Rücksichtnahme zu beweisen, nicht erst bekommen, bevor man die Polizei ruft?
Ich bin definitiv zu müde! Kann nicht jemand anderes einschreiten?
Aber habe ich vielleicht nicht so gar Verständnis für die Situation? Ist ja nun nicht jede Woche so laut. Und dass mal jemand ein dringendes Bedürfnis nach Spaß, Geselligkeit und lauter Musik verspürt, um der in Chemnitz oft so gelobten „Friedhofsruhe“ zu entfliehen, kann ich grundsätzlich nachvollziehen. Ist dieses Bedürfnis nicht genauso legitim wie meins nach Schlaf?
Wer entscheidet eigentlich, ob mein Bedürfnis wichtiger ist, als das des anderen?
Sind nicht am Ende beide gleich wichtig? Je nachdem aus welcher Perspektive man sie betrachtet?
Müssen Bedürfnisse denn immer zum Kompromiss gegeneinander aufgewogen und bis zur Unkenntlichkeit zurecht gestutzt werden? Hängt wahrscheinlich von den Opfern ab, die dafür zu erbringen sind. Aber schränke ich den Nachbarn mit meinem Bedürfnis nach Ruhe nicht genauso ein, wie er mich mit seinem Bedürfnis nach lauter Musik? Einfach mal aushalten?
Ich lausche der Musik. Der Beat wird schneller. Ich versuche in Gedanken mitzutanzen. Selbst das ist mir aber gerade zu anstrengend...
Irgendwann wache ich auf. Es ist hell, die Sonne scheint, alles ist ruhig bis auf ein bisschen Biolärm, d.h. Vogelgezwitscher. Das Problem hat sich von selbst gelöst. Irgendwie bin ich dann wohl doch eingeschlafen.
Kann es nicht immer so sein, dass sich die Probleme einfach ohne Konfrontation erledigen? Offensichtlich funktioniert es, wenn Entspannung, um nicht zu sagen Erschöpfung, ins Spiel kommt. Auch der Partyhengst scheint irgendwann müde geworden zu sein.
Mein Sohn hat von alldem nichts mitbekommen. Als ich ihm am Morgen von der nächtlichen Schallkulisse und den „immer schneller werdenden Frequenzen“ berichte, belehrt er mich, dass dies schon rein physikalisch unsinnig sei, da die Frequenz eine Eigenschaft einer Welle ist und höchstens steigen oder fallen kann aber nicht schneller werden kann, es sei denn, man würde die Welle werfen. Ein Ausflug in die Teilchenphysik zum Frühstück. Warum nicht.
Teilchen prallen aufeinander. Teilchen stoßen sich voneinander ab. Teilchen bewegen sich in Wellen. Ohne Energie bewegen sie sich gar nicht. Die Welt der Physik scheint geordnet, kann die Kräfte und Wirkungen berechnen. Teilchen würden sich ohne Energie nicht zerstören. Bekommen wir das nicht auch hin? Der Schlüssel scheint in der Verteilung der Energie zu liegen, was mich zur Formulierung des folgenden physikalpsychologischen Axiomes verleitet: Je mehr Energie in sinnvolle, im besten Fall spaßbringende Aktivitäten geleitet wird, umso weniger Energie steht fürs Ärgern oder gar Streiten zur Verfügung.
Ohne Zugeständnisse wird es im Zusammenleben von Menschen wohl nicht gehen. In gelassenem Zustand fallen uns diese aber deutlich leichter...
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